Presserat heisst FVS-Beschwerde teilweise gut

Der «Tages-Anzeiger» hat mit der Veröffentlichung des Berichts «Eine andere Aktion vor dem Bundeshaus» am 4. November 2010 die Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Wahrheitssuche) verletzt.

Aus der Stellungnahme des Presserates:

Der gegenüber Valentin Abgottspon erhobene Vorwurf, eine öffentliche Bibel- und Koran-Verbrennung mitgeplant zu haben, wiegt schwer. Zudem hat sich Simone Rau zwar bei Abgottspon persönlich, nicht aber öffentlich für den Fehler entschuldigt. Und im Gegensatz zum Sachverhalt, der in Stellungnahme 51/2009 zu beurteilen war, ist im aktuellen Fall zwischen den Parteien strittig, ob der «Tages-Anzeiger» verpflichtet gewesen wäre, Abgottspon bereits vor der Veröffentlichung des ersten Berichts zu kontaktieren und ob die Zeitung - wie dies der «Bund» getan hat - die Korrektur für die Leserschaft als solche hätte erkennbar machen müssen. Aus diesen Gründen tritt der Presserat auf die Beschwerde ein.

Ziffer 1 der «Erklärung» (Wahrheitspflicht) und die zugehörige Richtlinie 1.1 stellen die Wahrheitssuche an den Ausgangspunkt der Recherche. «Sie setzt die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten, die Achtung der Integrität von Dokumenten (Text, Ton und Bild), die Überprüfung und die allfällige Berichtigung voraus.»

Für den Presserat ist angesichts der Schwere des Vorwurfs unter dem Gesichtspunkt der Wahrheitssuche unverständlich, weshalb sich die Autorin vor der Veröffentlichung des Berichts vom 4. November 2010 allein auf die Behauptungen ihrer Informanten verliess, wonach Abgottspon die Aktion auf dem Bundesplatz mittrage. Zumal diverse Online-Medien bereits am Vortag (so die «Aargauer Zeitung» am 3. November 2010, um 11.24 Uhr) gemeldet hatten, die Walliser Freidenker distanzierten sich von der geplanten «Bibel- und Koran-Verbrennung».

Wäre der «Tages-Anzeiger» darüber hinaus verpflichtet gewesen, seine Leserschaft deutlich darauf hinzuweisen, dass er mit dem Bericht vom 6. November 2010 die Falschmeldung vom Vortag korrigiert hat? Richtlinie 3.1 zu Ziffer 3 des deutschen Pressekodexes schreibt bei einer Richtigstellung vor: «Für den Leser muss erkennbar sein, dass die vorangegangene Meldung ganz oder zum Teil unrichtig war. Deshalb nimmt eine Richtigstellung bei der Wiedergabe des korrekten Sachverhalts auf die vorangegangene Falschmeldung Bezug.»

Demgegenüber verlangt der Schweizer Presserat bei Berichtigungen bisher keine bestimmte Form (Stellungnahme 50/2008). Journalistinnen und Journalisten sollten jedoch mit Reaktionen auf eigene Medienberichte - selbst wenn diese die Redaktion scharf kritisieren -möglichst grosszügig umgehen und auch offensiv zu Fehlern stehen (Stellungnahme 11/1999). In diesem Sinne wäre es dem «Tages-Anzeiger» gut angestanden - beispielweise mit einer ähnlichen Formulierung, wie sie «Der Bund» verwendet hat - die Korrektur gegenüber den Leserinnen und Lesern transparent zu machen.

Nach kontroverser Diskussion hat es die 1. Kammer hingegen abgelehnt, dies zwingend zu fordern. Der Presserat überlässt es damit weiterhin dem Ermessen der Redaktionen, wie sie die Berichtigungspflicht im Einzelfall konkret umsetzen. Dies auch aus der Überlegung, dass ein Nachzieher je nach Platzierung und Aufmachung eine grössere Wirkung erzielt als eine kurze formale Berichtigung. Entscheidend ist weiterhin, dass das Publikum in die Lage versetzt wird, den Sachverhalt korrekt zu würdigen. Deshalb weist der Presserat die Beschwerde in diesem Punkt ab.

Volltext: http://www.presserat.ch/29400.htm