"Bildung verhindert Morde"

416 Morde und Totschläge liessen sich in Deutschland jährlich verhindern, wenn es gelänge, die Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss zu halbieren. Davon zumindest sind Horst Entorf und Philip Sieger von der Universität Frankfurt am Main überzeugt. Dazu kämen noch knapp 13'500 Raubüberfälle und Erpressungen sowie fast 320'000 Diebstähle weniger.

Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung haben die beiden Wirtschaftswissenschaftler den Zusammenhang zwischen mangelhafter Schulbildung und Kriminalität unter die Lupe genommen. Das Ergebnis ist eine Studie, die sie diese Woche in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert haben. Dass ein Zusammenhang zwischen Schulbildung und Verbrecherkarriere besteht, stand für die Forscher dabei ausser Frage. Ein Blick in deutsche Gefängnisse genügt: Dort haben 15 Prozent der Insassen nicht einmal einen Hauptschulabschluss, unter Gewaltverbrechern und Dieben gilt dies sogar für jeden Vierten. Nimmt man die Gesamtzahl deutscher Erwachsener, sind es dagegen gerade einmal 3,6 Prozent.

1771 Häftlinge befragt

Die entscheidende Frage allerdings war: Besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen der unzureichenden Bildung und dem Abdriften ins Verbrechermilieu? Denn nur dann wäre erwiesen, dass Bildung tatsächlich eine Stellschraube ist, mithilfe derer sich Verbrechen verhindern liessen. Und tatsächlich: Mit der Studie aus Frankfurt ist es zum ersten Mal gelungen, diese Kausalität für Deutschland zu belegen.

Dazu haben die Wissenschaftler 1771 Häftlinge sowie eine Kontrollgruppe von 1193 Menschen ohne einschlägige Vorgeschichte befragt und die Ergebnisse mit Daten der Kriminalitätsstatistik verglichen. Mithilfe komplizierter statistischer Messverfahren konnten sie nun verschiedene Faktoren festmachen, die eine kriminelle Laufbahn begünstigen.

Das Elternhaus ist mitbestimmend

So stellten die Forscher fest, dass in besonderem Masse Vorstrafen im Elternhaus dazu führten, dass auch die Kinder straffällig wurden. Eine Scheidung der Eltern wirkt sich demnach ebenfalls negativ aus; und - zur Überraschung der Wissenschaftler - verstärkt sogar Konfessionslosigkeit die Neigung zu kriminellem Handeln. Verbrechenshemmend wiederum wirken Ehen.

Das Augenmerk der Untersuchung lag jedoch auf den Bildungseinflüssen. Hier schlug der fehlende Hauptschulabschluss besonders stark zu Buche. Um zehn Prozent höher war bei den Schulabgängern ohne Schulabschluss die Wahrscheinlichkeit, wegen eines Verbrechens verurteilt zu werden. Und genau das ist der Punkt, bei dem die Bertelsmann Stiftung ansetzen will. Denn der Bildungsfaktor ist derjenige, auf den die Gesellschaft am ehesten Einfluss nehmen kann.

Ganzer Artikel: http://www.tagesanzeiger.ch/leben/gesellschaft/Bildung-verhindert-Morde/story/21297544

Kommentar

Erhöht Konfessionslosigkeit die Kriminalität?

Individuelle und familiäre Faktoren, wie Vorstrafen im Elternhaus oder Konfessionslosigkeit, haben einen signifikanten Einfluss auf kriminelles Verhalten – das zeigt auch die vorliegende Studie. [S. 6]

"Etwas überraschend ist der über alle Spezifikationen hinweg festgestellte kriminogene Einfluss der Konfessionslosigkeit. Alternative Schätzungen (ohne Dokumentation in den Tabellen) zeigen gleichzeitig, dass bei Mitgliedern der christlichen Kirchen eine messbar geringere Kriminalität feststellbar ist. Das Resultat bestätigt ähnliche Erkenntnisse in der kriminologischen Literatur (siehe dazu z.B. Kerner 2005). Es kann vermutet werden, dass die (Nicht-)Mitgliedschaft in einer Amtskirche ein Indikator für ein (fehlendes) moralisches Verhalten ist, dass durch die anderen Variablen des Schätzmodells nicht abgedeckt wird." [S. 29, Hervorhebung durch Red]

Die Studie stellt einfach fest, dass unter den Verurteilten die Zahl der Konfessionsfreien höher ist. Das ist eine statistische Tatsache, aber kein Beweis für eine Kausalität. Das gilt auch für die anderen Befunde.

Es  könnte z.B. „Stadt-Land-Gegensatz“ zugrunde liegen: In der Anonymität einer Grossstadt ist es leichter, Verbrechen zu begehen und es ist auch leichter, aus der Kirche auszutreten. Es könnte z.B. auch sein, dass schlecht Ausgebildete und Konfessionsfreie öfter verurteilt werden: Weniger Gebildtete, weil sie sich vielleicht weniger gut ausdrücken, oder weniger gute Anwälte leisten können, Konfessionsfreie, weil sie vielleicht von den Richtern härter angefasst werden, gerade weil sie konfessionsfrei sind?

In den USA wurde z.B. festgestellt, dass "Obwohl Weisse und Schwarze etwa gleich häufig Opfer von Morddelikten sind, ergeht die überwiegende Zahl von Todesurteilen gegen Täter, deren Opfer Weisse waren. Schwarze, die des Mordes an Weissen angeklagt sind, werden mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit zum Tode verurteilt als alle anderen Täter. Hat andererseits ein Weisser einen Schwarzen ermordet, so ist ein Todesurteil sehr unwahrscheinlich. " http://www.amnesty.ch/de/themen/todesstrafe/info/todesstrafe-in-den-usa

Fazit

Solche Studien können allenfalls Hinweise geben, wo es sich lohnt hinzuschauen. Aussagen über die Kausalität können sie nicht machen. Es ist das Problem der Sozialforschung, dass sie kaum Aussagen zur Kausalität machen kann, weil Experimente - wie in den Naturwissenschaften - nicht möglich sind.

Bertelsmann-Studie

http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_32620_32621_2.pdf

Weitere Kommentare

"Fragt man allerdings den Juristen Christian Pfeiffer, einen der führenden deutschen Kriminologen, zu den Ergebnissen aus Gütersloh, redet er sich schnell in Rage. Die Zahlen der Morde und Überfälle finde er 'abstrus'. Pfeiffer bestreitet nicht, dass es einen Zusammenhang von Bildungsstand und Kriminalität gibt - doch das sei altbekannt und nur ein Grund von vielen für kriminelle Handlungen. Die Behauptung der Bertelsmann Stiftung, die Studie beweise erstmals einen direkten Zusammenhang, sei dagegen schwer nachzuvollziehen. 'Eine Banalität, die als neue Erkenntnis verkauft werden soll', urteilt Pfeiffer harsch."

http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,728638,00.html