Europa braucht Laizität

IDENTITÄTSPOLITIK, ETHNISCHE DIFFERENZ UND MEINUNGSFREIHEIT

DIE griechische Regierung unter Costas Simitis hat am 23. Mai entschieden, zukünftig auf den Personalausweisen ihrer Bürger die Religionszugehörigkeit nicht mehr aufzuführen. In einem Land, in dem die Trennung von orthodoxer Kirche und Staat nie in die Praxis umgesetzt worden ist, macht diese Maßnahme Schluss mit einer allen demokratischen Prinzipien zuwiderlaufenden Verpflichtung. Sie ist umso erfreulicher, als sie zu einem Zeitpunkt erfolgt, da im Namen der europäischen Einigung der Grundsatz des Laizismus neuerdings wieder in Frage gestellt wird.

Von HENRI PENA-RUIZ * * Philosoph, Dozent am Institut d'études politiques de Paris, Autor von "Dieu et Marianne. Philosophie de la laicité", Paris (PUF) 1999.

Paris im Jahre 1999: Die 24-jährige Mariatou Koita aus Mali prangert die von ihrer Landeskultur angeblich verlangte Praxis der Klitorisbeschneidung öffentlich an.(1) Als erstes Opfer, das Anklage erhob, konnte sie sich auf das französische Gesetz berufen, das jede körperliche Verstümmelung verbietet. Einige Vertreter der malischen Gemeinschaft sprachen daraufhin von Verrat - und pervertierten damit das Recht auf Differenz, das doch wohl auch das Recht des Einzelnen auf Abweichung von dieser Differenz einschließt, also darauf, dass er oder sie eine etwaige Zugehörigkeit bei gleichzeitiger Distanzierung ausleben kann. Soll der Respekt vor den Kulturen, der so gern gegen das angeblich abstrakte Ideal des Laizismus bemüht wird, so weit gehen, dass jeder ihrer Bräuche abgesegnet wird?

Hier erweist sich die Ambivalenz unseres Kulturbegriffs: Wo es Unterdrückungsbeziehungen verschleiert, dient das Etikett "kulturell" lediglich der Legitimierung. Wir haben es hier mit der komplizierten Frage nach dem Verhältnis von Recht, Politik und Kultur zu tun. Wer eine rückständige Tradition angreift, muss deshalb noch nicht notwendig seine eigenen Wurzeln verleugnen. Vielmehr vermag er die Ebenen auseinander zu halten und vermeidet es, die Zugehörigkeit zu einer Kultur mit der Unterwerfung unter eine Macht zu verwechseln.

Auf welche Weise können die Grundwerte Freiheit und Gleichheit in einem immer größer werdenden europäischen Raum mehr Beachtung finden? Diese Frage steht mit dem laizistischen Ideal auf dem Spiel, das sich nicht einfach auf einen juristischen Rahmen reduzieren lässt und das zunehmend an Aktualität gewinnt in einer Welt, die von den Forderungen einer ethnischen Identitätspolitik auseinander gerissen und von klerikaler Restauration und kommunitaristischen Abwegen bedroht wird. In Frankreich werden angesichts der neuen religiösen Manifestationen - und im Namen der europäischen Harmonisierung - Forderungen nach einer "Öffnung" und "Neudefinition" des Begriffs Laizismus laut: In Wahrheit aber sollen die Beziehungen zwischen Politik, Religion und Kultur so verändert werden, dass die Neutralität des öffentlichen Raumes nicht länger gewährleistet ist.

Freilich sind diese das laizistische Ideal tangierenden Fragen nicht spezifisch französisch, sondern sie betreffen ganz Europa. So erhitzte etwa 1995 der so genannte Kruzifixstreit die deutschen Gemüter. Am 10. August 1995 erklärte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eine Regelung des Landes Bayern, nach der die staatlichen Schulen in jedem Klassenzimmer ein Kreuz aufzuhängen haben, für verfassungswidrig. Der Vatikan zeigte sich empört. Laizistische Kreise hatten sich gegen das obligatorische christliche Symbol in Räumen ausgesprochen, die doch grundsätzlich für alle Kinder gedacht sind, und hatten betont, dass in Umgebungen, in denen die Allgemeinheit angesprochen werde, Neutralität von eminenter Wichtigkeit sei. Helmut Kohl hatte dagegen unterstrichen, dass das Christentum ein konstitutives Element der deutschen Kultur darstelle und deshalb die Kreuze nicht entfernt werden dürften. Eine solche gezielte Begriffsverwirrung zwischen Kultur und Religion tut all denen Gewalt an, die anderen spirituellen Optionen folgen und sich durch eine diskriminierende und jeder Universalität Hohn sprechende Symbolik als Bürger zweiter Klasse abqualifiziert fühlen müssen.

Fortsetzung: http://www.monde-diplomatique.de/pm/2000/06/16/a0048.text.name,askreqYSy.n,4