Religiöse Elemente in Verschwörungstheorien

Was sind die wichtigsten religiösen Elemente in Verschwörungstheorien? Ein Gastbeitrag von Martin Koradi, Mitglied FVS Sektion Winterthur und Betreiber von verschwörungstheorien.info

Veranstaltungshinweis: «Wie gefährlich Verschwörungstheorien sind – und was sie mit Religion gemeinsam haben» mit Martin Koradi, Dienstag, 21. Dezember 2021, 19:30 Uhr im Al Giardino, Tösstalstrasse 70, 8400 Winterthur. Auch online via Zoom.

Zahlreiche Verschwörungstheorien kommen wie ein skurriles Hobby für Eigenbrötler daher, beispielsweise wenn ansonsten ganz normale Leute zu beweisen suchen, dass die Erde in Wirklichkeit flach ist. Ernster wird die Angelegenheit, wenn aufgeheizte Verschwörungstheorien in die Politik schwappen. Dann können Kriege und Genozide die Folge sein, wie bei der angeblichen «jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung» im «Dritten Reich». Oder es kommt zum Sturm auf das Kapitol in Washington, wenn ein Super-Verschwörungstheoretiker im Weissen Haus regiert und seine von QAnon inspirierten Fans aufputscht. Kaum Beachtung findet in der Öffentlichkeit, dass Verschwörungstheorien nicht selten massgebend durch religiöse Elemente geprägt sind, und dass damit ein erhebliches Gefahrenpotenzial verbunden sein kann.

Was also sind die wichtigsten religiösen Elemente in Verschwörungstheorien?

1. Der Teufel als Ur-Verschwörer

Verschwörungstheorien im modernen Sinn gibt es seit der Neuzeit. Erst die Zurückdrängung religiöser Vorstellungen schuf genügend Raum für gedankliche Konstrukte, in denen die Verfolgung von geheimen, bösen Plänen ausdrücklich einer Gruppe von Menschen zugeschrieben wurde. Moderne Verschwörungstheorien sind darum säkular. Das Böse wird innerweltlichen Verschwörern zugeschrieben. Doch gibt es unverkennbar religiöse Vorläufer. In dieser Hinsicht ist der Teufel die prominenteste Figur.

Judentum und Christentum sind grundsätzlich monotheistische Religionen. Es gibt nur einen Gott, nur ein Prinzip. Der Teufel wird dazu im Verlaufe seiner Karriere einen bedeutenden Gegenakzent setzen. Noch bei Hiob im Alten Testament tritt der Teufel aber nur als kleiner Handlanger Gottes auf. Er fungiert als informeller Mitarbeiter im perfiden Plan, Hiob mit allen möglichen Übeln zu plagen, um seine Glaubensstärke zu prüfen. In seiner weiteren Laufbahn wird der Teufel eigenständiger und entwickelt sich zu einem partiellen Gegenspieler Gottes, der das Böse verkörpert. Damit verbunden sind dualistische Vorstellungen. Gut und Böse, Licht und Finsternis treten zunehmend als Gegensätze auf, die miteinander im Kampf stehen. Es sind solche dualistischen Vorstellungen, die aufgeladen mit Wut und Hass in aktuellen Verschwörungstheorien wieder auftauchen. Uralte Teufelsvorstellungen werden rezykliert, säkularisiert, internetgängig gemacht und als Propagandaelemente eingesetzt. Das Böse bekommt in einer komplex gewordenen Welt wieder einen klar bestimmten Ort.

Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Kampagne der ungarischen Regierung unter Viktor Orban gegen den jüdischen Investor und Philanthropen George Soros. Orban pflasterte sein Land zu mit Grossplakaten, von denen Soros undurchsichtig herablächelt neben dem Slogan "Lassen wir es nicht zu, dass Soros zuletzt lacht!" – Mit einer grosszügig plakatierten Prise Verteufelung eint Orban das eigene Lager und konstruiert einen Sündenbock zur Ablenkung von eigenen Schwächen. Soros ist inzwischen ein Lieblingsfeind der Verschwörungsgläubigen.

2. Dualismus in Religion und Verschwörungstheorien

Es sind jedoch nicht nur wiederverwertete Teufelsvorstellungen, die als religiöse Elemente in Verschwörungstheorien wieder auftauchen. Gräbt man etwas tiefer, kommt insbesondere der Dualismus in seinen verschiedenen Ausprägungen ins Blickfeld. Vor, neben und im Frühchristentum tauchen dualistische Vorstellungen auf, die sich über Jahrhunderte erhalten haben und in gegenwärtigen Verschwörungstheorien wieder auftauchen.

Dabei lohnt sich insbesondere ein Blick auf die Gnosis. Gnostische Bewegungen entfalteten sich hauptsächlich im 2. und 3. Jahrhundert n. u. Z. innerhalb und teilweise auch ausserhalb des Christentums. Sie sind charakterisiert durch einen starken Dualismus mit dem Kampf zwischen Licht und Finsternis, Gut und Böse. Dazu kommt noch ein ausgeprägter Erlösungsglaube. Die Gnosis avancierte im 2. Jahrhundert zum theologischen Hauptgegner der frühen Kirche.

Eine ganze Reihe von Elementen aus der Gnosis taucht in gegenwärtigen Verschwörungstheorien wieder auf. Das lässt sich sehr gut aufzeigen am Beispiel der QAnon-Verschwörungsideologie.

3. Gnostische Elemente in Verschwörungstheorien

☛ Dualismus

Die Gnosis geht von zwei Gottheiten aus: Ein böser Schöpfergott (Demiurg), der die Welt erschaffen hat, und ein guter Erlösergott. Damit ist der Dualismus von Gut und Böse von Beginn an gesetzt. Die scharfe Trennung in Gut und Böse zeigt sich auch in zahlreichen Verschwörungstheorien. Der Kochbuchautor und QAnon-Verschwörungsideologe Attila Hildmann beispielsweise schwadroniert von einer bösen liberalen «Elite», die in Bunkern und Höhlen unter Europa massenhaft Kinder gefangen hält und foltert, um aus ihrem Blut das angebliche Verjüngungsmittel Adrenochrom zu extrahieren. Auf Seite der Guten stehen für Hildmann Trump, Putin und Xi, die sich dankenswerter Weise für die Befreiung der Kinder engagieren. 100 000 US-Soldaten kämpfen in den Bunkern und Höhlen im Auftrag Trumps, um die Kinder zu retten – behauptete Hildmann.

Die Gnosis bietet nicht nur eine dualistische Welterklärung (Kosmologie), sondern auch eine dualistische Anthropologie (Lehre vom Menschen). Die Gnostiker teilten die Menschen auf in «Pneumatiker» (Geistmenschen), das sind die Erleuchteten, Wissenden, also sie selber, und in die Nicht-Erleuchteten. Auf die Nicht-Erleuchteten «Psychiker» («Seelenmenschen») und «Hyliker» («Stoffmenschen») schauten die «Pneumatiker» ziemlich arrogant herab.

Im stark gnostisch geprägten und dualistischen Manichäismus, der persische Wurzeln hat, gab es eine Kaste der Gurus („electi“), die ihre Hörer („auditores“) in die Geheimnisse der Lehre einweihten.

Diese dualistische Trennung vertreten zahlreiche Verschwörungsgläubige sehr ähnlich, wenn sie sich selber als «Aufgewachte» beschreiben, und alle anderen, die nicht an die Verschwörungstheorie glauben, als «Schlafschafe» bezeichnen, welche die Wahrheit noch nicht erkannt haben.

☛ Der Glaube an eine Erlösergestalt, welche in die Wahrheit und ins Heil führt.

Die christlichen Gnostiker sehen in Jesus Christus die Erlösergestalt. Im Manichäismus fungieren an dieser Stelle die „electi“, welche die „auditores“ zum Licht führen.

Auch in Verschwörungstheorien tauchen überragende Erlösergestalten auf. Im QAnon-Kult ist Donald Trump der Heilsbringer, der gleich die ganze Welt retten soll. Es gibt jedoch auch beschränktere Erlöserfiguren.

Als gegenwärtige «Erlösergestalten» in Verschwörungstheorien stehen insbesondere Influencer in den sozialen Medien im Zentrum. Dazu gehören Figuren wie Oliver Janich, Michael Wendler, Attila Hildmann, Coach Cecil, Xavier Naidoo, Ken Jebsen, Daniele Ganser oder Christina von Dreien. Auch diese «Promis» „erlösen“, indem sie angeblich Menschen ins Licht, in die Wahrheit führen, oder zu mindestens mit suggestiven Fragen eine ganz bestimmte Wahrheit hinter der Fassade nahelegen.

YouTube-Videos sind für dieses «Aufwachen» die bewährtesten «Lehrmittel» – und wie in der Gnosis kann man dabei beliebig tief einsteigen.

☛ Versprechen und Vision einer endzeitlichen Erlösung für die Auserwählten, und Verderben für die anderen 

In der Gnosis herrscht zwischen dem Reich des Lichtes und dem Reich der Finsternis ein erbitterter kosmischer Kampf, der schliesslich in der totalen Trennung und damit in der Vernichtung des Reiches der Finsternis endet. Denn in der Vermischung der beiden Prinzipien Licht und Finsternis liegt das Grundübel, der Kern allen Leidens.

Verschwörungstheorien bieten in unterschiedlichen Varianten «endzeitliche Erlösung» an. Auf den Tag der Amtseinsetzung von Joe Biden als US-Präsident fantasierten QAnon-Anhänger und -Anhängerinnen den grossen Tag der Wende herbei: Das Militär wird einschreiten und die führenden Demokraten und andere Feinde Trumps vor laufenden Fernsehkameras festnehmen. Alles Böse wird so ausgelöscht und Trump als Heilsbringer wieder eingesetzt. Man muss nur die böse Elite (also die satanische Macht) beseitigen und dann bricht der umfassende Friede aus. Da stellt sich die Frage, was Menschen zu tun bereit sind, um diese Vision zu realisieren. Verschiedene durch Verschwörungstheorien mitbegründete Amokläufe gab es ja bereits, die aus Sicht der Attentäter das Böse eliminieren sollten.

☛ Missionarismus

Gnostiker zeigen eine intensive Bereitschaft, als Propheten aufzutreten und ihr Erlösungswissen der Menschheit zu verkünden.

Der Auftritt als wissender Prophet («Aufgewachter») zählt zum Repertoire zahlreicher Verschwörungstheoretiker. Mit ihrem Missionarismus toben sich Verschwörungsgläubige hauptsächlich im Internet aus.

Schlussfolgerung:

☛ Nicht jede Verschwörungstheorie enthält religiöse Elemente. Doch wenn religiöse Elemente vorliegen, dann ist es entscheidend, vor allem alle dualistischen Aspekte genau im Auge zu behalten.

☛ Dualistische Elemente in Verschwörungstheorien können Sündenbockdenken, Feindbildproduktion, Radikalisierung und Polarisierung begünstigen. Sind Gut-Böse-Konstellationen in Verschwörungstheorien mit Hass und Wut aufgeladen, können sie zur Basis für Gewaltanwendungen werden.

☛ In der Auseinandersetzung mit religiösen Elementen in Verschwörungstheorien ist es zentral, Dualismen zu erkennen und sie in Frage zu stellen. Anstelle der radikalen Trennung in Gut und Böse, Licht und Finsternis, wäre es sinnvoll, die Ausbildung von Ambiguitätstoleranz zu unterstützen.

Martin Koradi betreibt die Website verschwörungstheorien.info.

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