Themenabend: Gibt es ein atheistisches Christentum?

Silvia Zollinger hat mehrere Bekannte, die sich als gläubige ChristInnen bezeichnen, die aber nicht an die wichtigsten Glaubenssätze des Christentums glauben wie z.B. die unbefleckte Empfängnis, die Auferstehung, und die nichts anzufangen wissen mit der hl. Dreifaltigkeit. Sie glauben auch nicht an einen allmächtigen, allwissenden, allgegenwärtigen Gott und nicht, dass die Bibel tatsächlich Gottes Wort ist. Da stellt sich die Frage, ob sich diese Menschen überhaupt noch christlich nennen können und sollen. Ein Vortrag.

In dem Zusammenhang bin ich auf einen Text von Dorothee Sölle gestossen, in welchem sie diese Frage bejaht. Auch sie findet all diese Glaubenssätze überholt und sie entwickelt einen nach-theistischen christlichen Glauben. Diesen Text habe ich anlässlich eines Diskussionsabends zusammengefasst und anschliessend haben wir ihn kritisch diskutiert.

Zur Autorin

Dorothee Sölle lebte von 1929 -2003 und war Theologin und Schriftstellerin. Sie hat ein Leben lang versucht, Gott zu denken und ist zum Schluss gekommen, dass «Gott tot ist», wie Nietzsche sagt. Sie hat sich deswegen aber nicht vom Christentum abgewandt, sondern sie verzichtet auf das überholte Gottesbild und postuliert, dass wir Menschen eben den abwesenden Gott vertreten müssen. Sie hat als Vorbild Jesus Christus gewählt. Sie hat sich in der Friedens-, Frauen- und Oekologiebewegung in Deutschland engagiert und sich der Befreiungstheologie und der feministischen Theologie nahe gefühlt. Sie hat nie einen Lehrstuhl erhalten und war an deutschen Universitäten nicht akzeptiert.

Zum Inhalt

These: Im christlichen Glauben leben, heisst im Entwurf Christi leben.

Der christliche Glaube bedeutet für Sölle nach dem Lebensentwurf von Jesus leben und handeln, d.h. nach seinem Vorbild und seinen Grundsätzen zu leben und nicht einfach an ein höheres Wesen zu glauben und unsere Probleme an dieses Wesen zu delegieren. Sie stellt fest, dass das für die einen Menschen zu viel verlangt ist. Sie sagen, Jesus sei unerreichbar, eine göttliche Gestalt, den griechischen Halbgöttern vergleichbar. Man könne von ihm die Erlösung, das ewige Leben erwarten, aber keinen Entwurf für unser allzu menschliches Leben. Für diese Menschen, sagt Sölle, ist das Evangelium eine Unsterblichkeitsdroge. Dies sei nur eine sozial belanglose Meinung, eigne sich höchstens für den persönlichen Gebrauch. Andere meinen, so zu leben wie Jesus sei zu wenig. Der Glaube beinhalte viel mehr. Diese Meinung ist die gängige und von den Kirchen vertretene. Für sie muss der Glaube, ausser der Art wie wir leben, auch noch die Annahme bestimmter Glaubenssätze sein, beispielsweise: «Jesus von Nazareth wurde von einer Jungfrau geboren», «er stand nach dem Tod wieder auf», «Jesus ist Gottes Sohn». Die Anzahl dieser Sätze schwankt in den einzelnen Konfessionen, aber das Fürwahrhalten einiger solcher Heilstatsachen scheint überall nötig zu sein. Ein solches «volles» Bekenntnis kostet die Gläubigen nichts, es hat keine Folgen für die Bekennenden, es ist gesellschaftskonform, denn die westlichen Länder gewähren einen grossen Spielraum der Meinungsfreiheit. Im Gegenteil, viele bekennen, damit sie in eine Gesellschaft integriert sind.

«Im Entwurf Christi leben» hingegen bedeutet: leben, wie er gelebt hat, seinen Traum realisieren und das heisst, seine Grundsätze umsetzen, und die daraus resultierenden Folgen tragen. Als Beispiel für einen Menschen, der sein Credo umgesetzt hat, nennt Sölle Martin Luther King. Solange er «nur» predigte, geschah ihm und durch ihn nichts. Als er den Entwurf Christi zu leben begann, kam er ins Gefängnis und wurde zu Zwangsarbeit verurteilt.

Zur Veranschaulichung nimmt sie die Geschichte aus der Bibel von dem Mann, der unter die Räuber gefallen ist und halbtot auf der Strasse liegt. Ein Priester und ein Levit sehen ihn dort liegen und gehen vorüber. Von ihrem Beruf aus zu schliessen, waren beide Theisten, d.h. sie sind in ihrem Denken bezogen auf ein höheres unsichtbares Wesen. Sie übersetzt diese Geschichte in etwas Gegenwärtiges, nämlich Geschehnisse während des Vietnamkrieges (sie war zu jener Zeit in der Friedensbewegung engagiert): Ein ganzes Volk lag auf der Strasse zwischen Da Nang und Hué und war unter die Mörder gefallen, will sagen: es wurde ihnen Gewalt angetan, und die Christen verschiedenster Couleur sahen auf ihren Fernsehern, was da geschah und beteten fleissig weiter. Die Kirchen protestierten nicht, demonstrierten nicht, übernahm keine Verantwortung. In der biblischen Geschichte kam dann schliesslich noch ein Atheist aus Samaria vorbei. Er hingegen lebte gemäss dem «Entwurf Christi» realisierte den Traum Christi, der darin besteht, dass der Mensch anderen der Nächste wird, für ihn Verantwortung übernimmt, ihm hilft. Dass er Menschenliebe lebt. Der Priester und der Levit zweifelten nicht an Gott und den damaligen Glaubenssätzen. Jesus aber interessierte sich nicht für die Meinungen der Gelehrten über die Existenz eines himmlischen Wesens, sondern dafür, ob der Mensch dem anderen der Nächste, der Fernste wird. Ob einer unbetroffen oder gleichgültig wird gegen andere. Im Entwurf Christi leben heisst also handeln, einstehen für Gerechtigkeit und Frieden.

Der Entwurf Christi setzt den Glauben an Gott nicht voraus. Die Berufung auf Gott fügt dem Entwurf Christi nichts hinzu.

Sölle erzählt ein Gleichnis zweier Forschungsreisender, die zu einer wunderbaren Lichtung im Dschungel kamen, wo viele Blumen und Kräuter wuchsen. Der eine sagte: es muss einen Gärtner geben. Der andere meinte, es gebe keinen Gärtner. Sie überwachten die Lichtung lange aufwändig mit Kameras, elektrischen Zäunen, Spürhunden, aber es liessen sich keine Spuren finden von einem Gärtner. Der Gläubige war weiterhin überzeugt, dass es einen unsichtbaren, unberührbaren, stummen Gärtner gibt, der keine Spuren hinterlässt. Der Skeptiker fragte schliesslich entnervt, was denn der Unterschied wäre zwischen diesem Gärtner und gar keinem oder nur eingebildeten Gärtner. Für den Garten hier und jetzt wäre es absolut kein Unterschied. Der gläubige Forscher braucht den Gärtner, um die Entstehung des Gartens zu erklären. Die Aufklärung, die Wissenschaft hat für uns dieses theistische Weltbild zerstört. Die Wissenschaft füllt immer mehr Wissenslücken, die vorher mit Gott gefüllt wurden. Dieser ist somit funktionslos geworden. Das zweite Interesse des Forschers im Gleichnis ist ein emotionaler Wunsch nach Geborgenheit und Trost. Dies ist ein Bedürfnis von hilflosen Kindern, von Menschen in ländlichen Gegenden, wo die eigene Hilflosigkeit technisch und gesellschaftlich noch wenig bewältigt ist oder unter Frauen, denen die von der Gesellschaft diktierte Rolle der Hilflosigkeit und Machtlosigkeit als naturgegeben erscheint. Je erwachsener der Mensch jedoch wird, umso mehr lernt er, diese Hilflosigkeit zu überwinden. Die Geborgenheitssehnsucht wird immer mehr aufgelöst und geht in die Fähigkeit über, selbst Geborgenheit für andere zu werden, zum Beispiel für Kinder. Somit wird Gott also auch für das Gefühl entbehrlich. Im Streit der im Gleichnis erwähnten Forscher wird die Frage nach der Existenz des Gärtners, der weder wirkt noch eingreift, unwichtig, funktionslos. Wenn die Existenz des Gärtners nachgewiesen würde, würde sich gar nichts ändern. Was macht es für den Mann, der auf der Strasse liegt aus, ob Gott existiert? Was würde sich für unser Leben ändern, ob Gott existiert oder nicht? Wird die geleistete Hilfe, also die Liebe, die im Entwurf Christi erscheint, anders wenn es Gott gäbe? Fügt Gott der Sache Jesu etwas hinzu? In der Geschichte der Kirche lässt sich das Gegenteil beweisen. Die Berufung auf Gott erspart das Nachdenken, erspart die gelebte Liebe. Diese wird an Gott, in den Himmel, an eine übernatürliche Macht delegiert. Sie verharmlost die Enttäuschung, die aktiv werden lässt.

Gott entrückt und entzieht der Wirklichkeit die Liebe, erlaubt die Ausbeutung und Vernichtung anderer: der Juden, der Indios, der Schwarzen, der Proletarier, heute der Hungernden in der Dritten Welt. Gottesglaube ist eine Hilfe bei der Verdrängung der Probleme. Authentisch christliches Verhalten ist heute praktisch a-theistisches Verhalten, und die Annahme oder Ablehnung eines himmlischen Wesens ist für den Entwurf Christi ohne aufbauende Bedeutung. In früheren Zeiten, als das Verhältnis des Menschen zur Natur und sein Dasein in der Gesellschaft noch einer kindlichen Ohnmacht und Hilflosigkeit nahe war, hatte die Berufung auf Gott ihren konkreten Sinn – gegen die bedrohenden Mächte der Natur, gegen Krankheit, frühen Tod, Überschwemmungen, Missernte, Krieg, und Gewalt. Ist diese ursprüngliche kindliche Ohnmacht aber in ihren Ursachen erkannt und kann darum aufgehoben werden, so kann diese Ohnmacht nicht mehr religiös konserviert werden. Dies kann nur als ideologisch bezeichnet werden. Daher sehen sich die Repräsentanten dieser Ideologie genötigt, die weitere Entwicklung zu ignorieren, abzuleugnen oder zu hemmen. (Anm. : Siehe Kreationisten)

Gottesglaube ist die Rechtfertigung der bestehenden Verhältnisse; christlich handeln heisst heute praktisch a-theistisch handeln.

Ein Beispiel: Wer die Antibabypille oder Düngemittel nicht kennt, mag ein Recht haben, zu beten für eine gute Ernte oder damit kein Baby kommt. Wer sie hat, kommt nicht mehr auf den Gedanken. Wer sie kennt, aber nicht hat, hat kein Recht zu beten, er soll sie sich besorgen. Das theistische Verhalten ist in unserer Welt eine Art Beten, dass kein Baby kommt. Der theistisch Denkende wartet auf Gottes Eingreifen, darin ist er antichristlich. Mit Hilfe dieses Gottesglaubens geben wir uns ohnmächtig und rechtfertigen bestehende Zustände. Er ist eine Erwartungshaltung: man erträgt und schweigt. Man darf in Kirchen zwar beten für Vietnam, sich also theistisch-ohnmächtig verhalten. Die atheistischen Verhaltensformen aber, die Diskussion und der Protest werden aus den Kirchen vertrieben. Sölle: Die Christen müssen handeln wie Jesus selber, nämlich die ganze Verantwortung übernehmen. Es gibt keinen Vater, der für uns die Verantwortung übernimmt und bei unserem Versagen einspringt! Gottesglaube ist in unserem Weltzustand ein Alibi für verweigerte Liebe. Praktisch ist jedes christliche Handeln heute atheistisch: es wird kein Eingreifen eines höheren Wesens erwartet. Der unsichtbare, unfühlbare Gärtner, der nicht eingreift, ist so gut wie kein Gärtner. Was aus dem Garten wird, ist unsere Sache!

Der Sinn des christlichen Atheismus ist «Gott und das Göttliche» zu leben.

Das Leben im Entwurf Christi ist das, worauf Menschen sich in unserer Kultur einigen können als die säkulare, also weltliche Bedeutung des Evangeliums. Lebte Jesus heute, – er wäre Atheist. Er wäre wie alle anderen, ohne Privilegien. Er lebte auch heute nicht in einem Palast, in dem man Sorgen und Angst der gewöhnlichen Leute nicht kennt. Seine Solidarität mit den Armen wäre missverstanden, wenn sie sich von oben, aus der göttlichen Sicherheit, herunterneigte gegen die Armen. Er war und wäre – wie wir auch -, ohne Rückendeckung eines mächtigen Vaters. Man könnte jetzt einwenden, das sei kein Glaube, sondern eine Philosophie. Aber der Entwurf Christi macht auch Voraussetzungen, die nicht abgeleitet werden können und denen eine rationale Begründbarkeit fehlt. Er ist also ein Glaube. Die Voraussetzungen gründen aber in fassbaren Bedürfnissen der Menschen. Es sind Bedürfnisse nach Sinn, Ziel, Begründung und Verwirklichung eines echten Lebens. Voraussetzungen des Glaubens, die nicht bewiesen werden können sind die, dass jedem die Chance des ewigen Lebens gegeben wird. Was Sölle darunter versteht, führe ich jetzt nicht aus. Nur so viel: es hat nichts mit der zeitlichen Dimension zu tun, eher mit einem erfüllten, gerechten, eben dem echten Leben, das jedem Menschen zustehen soll. Eine weitere Annahme ist, dass unsere Bedürfnisse unendlich sind. Dass also keine Erfindung oder keine Erkenntnis unsere Bedürfnisse je erfüllen wird. Dies bedeutet für sie zugleich, dass nur Liebe sie stillen kann.

Der Entwurf Christi setzt den Glauben an Gott nicht voraus, aber er postuliert das «Ereignis Gott» für alle Menschen.

Wir Menschen müssen Gott vertreten, da er abwesend ist. Wir müssen so handeln, wie wir es von einem Gott erwarten und verlangen würden. Das bedeutet, dass sich im richtigen Handeln für das Wohl der Menschen oder sogar für die Menschheit «Gott ereignet» zwischen den Menschen.

Sölle kommt aber über den Widerspruch zwischen Atheistsein und ‹den Entwurf Christi verwirklichen› einerseits und auf der anderen Seite das Verlangen nach Gott nicht hinaus. Dass Unschuldige um ihr Leben betrogen werden, und in die – weltlich verstandene – Hölle kommen, kann sie zwar nicht akzeptieren als von einem Gott gewollt. Aber sie akzeptiert auch die «trostlose atheistische Banalität» nicht, da die Sinnfrage und die Liebe dort keinen Platz haben. Ihre Antwort ist eben der Entwurf Christi, der nichts und niemanden aufgibt und dadurch «den sich selbst bescheidenden Humanismen» trotzt. (Diese erfüllen nicht alle unsere Bedürfnisse) Der Entwurf Christi stellt den höchsten Anspruch für jeden Menschen. Sie betont nochmals: Wenn Christus heute wieder käme, wäre er Atheist, das heisst, er könnte sich auf nichts anderes als auf seine weltverändernde Liebe verlassen. Er wäre Atheist, weil er alles für alle wollte.

Sölle erzählt am Anfang des Textes eine Geschichte, wovon ich als Schlusswort den Satz zitieren will, der meiner Meinung nach ihre ganze Überzeugung zusammenfasst: «Ach, wenn es nun keine Unsterblichkeit gäbe, was täten Sie?» «Ich würde lieben.»