Philosophische Wanderung: Wertewandel in der Gesellschaft

Bereits die Peripatetiker — die Angehörigen der aristotelischen Schule in Athen, im Jahr 335 v.u.Z — waren für das Philosophieren im Umherwandern bekannt. Auf diese ehrwürdige Tradition greifen die Winterthurer Freidenker zurück und laden regelmässig zu Philosophischen Wanderungen ein. 

Am Samstag 24. August wanderte die Gruppe über die sanfte Wiesen – und Hügellandschaft von Seen nach Eidberg und setzte sich dabei mit dem Thema Werte auseinander. An vier schattigen Orten auf dem Weg las Silvia Zollinger ausgewählte Artikel aus der NZZ vor, welche unterschiedliche Aspekte des Themas beleuchteten.

Im Philosophischen Online Lexikon definiert Prof. Dr. Armin G. Wildfeuer den Begriff Werte als grundlegende, konsensuelle, normierend und motivierend wirkende Zielvorstellungen und Qualitäten, die — weil sie sich mit Bezug auf anthropologische Grundkonstanten als unabdingbar erwiesen haben — auch tatsächlich angestrebt und gewünscht werden, so dass sich Individuen und Gruppen von ihnen bei ihrer Handlungswahl und ihrer Weltgestaltung leiten lassen. Trotz der bestehenden Schwierigkeiten einer präzisen Begriffsbestimmung, wird in der neueren Diskussion die Unverzichtbarkeit von Wertorientierungen für den Vollzug individuellen und sozialen Lebens nicht in Frage gestellt. Dabei wird zwischen den absoluten Werten, wie der Mensch an sich und den Dienst- und Nutzwerten unterschieden. Die letzteren werden stets durch Übereinkommen der Menschen über das Zu- und Abträgliche festgelegt.

Thomas Ribi, Autor des ersten der vorgelesenen NZZ Artikels Falscher Glanz der Werte steht dem Begriff der Werte skeptisch gegenüber. Er definiert ihn anders und weniger umfassend. In seiner Auffassung sind die Werte vage und vergänglich, sie spiegeln die persönlichen Bedürfnisse und Vorlieben des einzelnen Menschen. Seit es sie gibt werden sie von Ländern, Regierungen und Gruppierungen instrumentalisiert: Hinter Werten stehen immer Interessen. Aufgrund der Missbrauchsgefahr sollte, in den Augen des Autors, der Staat sich darauf beschränken, die Gesetze zu erlassen. Die Bürger auf gemeinsame Werte verpflichten zu wollen, spräche gegen die Errungenschaften der demokratischen Verfassung des Staates.

In der anschliessenden Diskussion, die im Wandern stattfand, wurde hinterfragt, ob Thomas Ribi die Werte richtig definiert und sie, dort wo er auf Instrumentalisierung verweist – nicht mit Ideologien verwechselt. Nicht alle Anwesenden befürworteten den vom Autor vertretenen Relativismus der Werte. Einige der Freidenker machten darauf aufmerksam, dass hinter den Gesetzen letztendlich auch die sozialen Normen stehen, die von bestimmten Werten abgeleitet werden – und ein funktionierendes Gesetz und ein Sanktionssystem eine Voraussetzung des gelungenen Zusammenlebens einer Gesellschaft darstellt. Allgemeine Zustimmung fanden hingegen die Postulate des Autors, dass gesellschaftliche Konventionen, wie die Art der Begrüssung oder Verhaltensregeln gegenüber bestimmten Institutionen, im Bereich der Freiheit jedes Einzelnen liegen. Das Ablehnen oder Einhalten dieser Konventionen gibt wohl Auskunft über die Wertvorstellung des Handelnden, darf aber nicht gesetzlich vorgeschrieben werden.

Sollen wir Konventionen verrechtlichen? lautete der Titel des zweiten Artikels, der am schattigen Waldrand vorgelesen wurde. Auch hier wurde die Frage gestellt, welche Lebensbereiche einer Gesellschaft rechtlich geregelt werden dürfen. Die Argumentation des Autors Kurt Seelmann geht von der Definition des klassischen Liberalismus aus, die auf den Theorien von Alexander von Humboldt und Stuart Mill beruht – Die Grenze der Freiheit des Einzelnen kann nur ebendiese Freiheit beim Anderen sein. Auch die Menschenrechte — im Gegensatz zu Menschenpflichten — orientieren sich an der klaren Grenze der Rechte der Anderen und sind somit die beste Basis für Gesetze des liberalen Staates.

In letzter Zeit werden zwar Forderungen laut, auch bestimmte soziale Konventionen rechtlich zu regeln, um bestimmte Werte und Haltungen festzuschreiben. Dies lässt sich jedoch — laut Seelmann — auf der Basis des klassischen Liberalismus nicht begründen. Ob es sich um Kleidervorschriften, Händedruck als Begrüssung in der Schule oder Verordnung des vegetarischen Menus in Kantinen handelt — wenn der Stadt solche Konventionen verrechtlichen wollte, geriete er in Gefahr, Paternalismus und Gesinnungspflege zu betreiben.

Der Dritte Artikel unter dem Titel Mitgefühl oder Ekel? eröffnet eine ganz neue Perspektive in der Wertedebatte. Die neuste psychologische Forschung zeigt, dass unsere politische Orientierung durch einige irrationale Faktoren geprägt ist. «Vieles spricht dafür, dass oft Gefühlsdispositionen und nicht reflektierte Überzeugungen unseren normativen (moralischen, politischen) Intuitionen zugrunde liegen» — sagt der Autor des Artikels, Philipp Hüggl.

Die neurobiologische Forschung definiert sechs emotionsbasierte, kulturübergreifende Prinzipien, die unser Verhalten steuern:

  • Fürsorge sichert unsere Bindungen
  • Freiheit zeigt sich in dem Wunsch, selbstbestimmt zu leben
  • Fairness verlangt nach Gleichgewicht und Gerechtigkeit.

Auf Verletzungen dieser Prinzipien reagieren Menschen, die eine progressive politische Orientierung vertreten, mit moralischer Wut.

Bei Konservativen sind diese Reaktionen vergleichsweise schwach ausgeprägt. Ihre Werte sind anders:

  • Loyalität
  • Autorität
  • Reinheit

Hier geht es um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, mit den Gefühlen von Vereins- oder Nationalstolz sowie der Verachtung für Fremde. Hierarchie und Unterordnung werden stark betont, Autorität findet Ausdruck in Familiensystemen, wie dem Patriarchat. Das Ideal der Reinheit basiert auf der Erhöhung des Reinen und Natürlichen und Abwertung des Unreinen und Unnatürlichen und mobilisiert Abgrenzung und Ekel als Hauptemotion. Diese kann sich sehr schnell steigern und zu Rassismus, Anfälligkeit auf Verschwörungstheorien und in Sehnsucht nach dem autokratischen Führer ausarten.

Die Fronten der Progressiven und Konservativen verhärten sich, weil sie auf ganz unterschiedlichen Wahrnehmungsmechanismen basieren. Während Progressive einem analytischen Denkstil und der Wahrheitssuche verpflichtet sind, lassen sich die Konservativen von ihren Emotionen und Impulsen leiten und sind nicht fähig, ihre Positionen zu revidieren. Werte wie Fürsorge, Fairness und Freiheit lassen sich besser mit rationalem Denken und einer universellen Ethik verbinden als die Ideale der Loyalität, Autorität und Reinheit. Aus diesem Grund — so die Schlussfolgerung des Autors — ist es sehr schwer, die Menschen vom rechten Lager zurückzuholen. Dafür muss man langfristig auf gute Bildung setzen: Bürger mit hohem Bildungsstand denken tendenziell eher progressiv. Ansonsten empfiehlt der Autor die positive Emotionalisierung von progressiven Themen, zum Beispiel, indem man an das Mitgefühl gegenüber Fremden appelliert, das manchmal den Ekel übertrumpfen kann. Das ist zwar nur eine Notlösung, aber immerhin ein Anfang.

Beim Mittagessen im Restaurant Frohsinn in Eidberg ging man nach der Lektüre kurz der Selbstreflexion über die eigene Emotionalität nach, aber die philosophische Debatte verstummte auf einmal – wollte man sich doch auch dem Genuss der Speisen widmen. Auf dem Rückweg in der prallen Sonne liess die geistige Kraft etwas nach. Diesem Zustand wurde die letzte humoristische Lektüre gerecht. In einem Artikel Wer flucht, tut Gutes macht Urs Hafner darauf aufmerksam, wie das säkulare, auf Wissenschaft basierte Weltbild, den Fluch, der früher höhere Mächte beschwor, obsolet und inflationär machte. Seine Argumentation war so überzeugend, dass sich so mancher Freidenker nach den alten Zeiten zu sehnen begann, in denen wir so richtig lästern und provozieren konnten.

Philosophische Wanderung

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