Überall «Derachim»: Was bedeuten die Aufkleber im Zürcher Kreis 3?

Mit einem Typen namens «Achim» haben die Derachim-Aufkleber nichts zu tun, die im Zürcher Kreis 3 (Wiedikon) seit Dezember 2018 auftauchen. Es geht um ein Projekt von und für jüdische Apostaten.

Die rätselhaften «Derachim»-Aufkleber zeigen in einem weissen Kreis den Ausschnitt aus einer Strasse, darunter steht in grüner Schrift auf schwarzem Hintergrund «Derachim», gefolgt von einer Handy-Nummer und der Webseite www.derachim.ch. Die Kleber sind in der zweiten Dezemberhälfte 2018 in Zürich hauptsächlich im Gebiet um Schmiede und Bahnhof Wiedikon erschienen, jedoch auch an anderen Orten im Stadtkreis 3, an denen viele orthodoxe Juden leben, einkaufen oder ihre Kinder zur Schule schicken. Über eine Facebook-Kontaktaufnahme hat die Autorin erfahren, wer und was dahintersteckt. Sie hat sich mit zwei jüdischen Religionsaussteigern getroffen.

Einen von ihnen dürfen wir mit vollem Namen nennen: Samuel Friedman ist Gastronom und leitet das Restaurant Kai Sushi am Schiffbau. Er ist Name und Gesicht für das Projekt «Derachim Schweiz». Den zweiten im Bunde – und eher die aktivistische Kraft hinter Derachim – kennt die Autorin von früheren Gelegenheiten, aber wir outen ihn nicht: Für diesen Artikel heisst er schlicht «C.».

Beiden gemeinsam ist, dass sie in streng orthodoxen jüdischen Familien und Gemeinschaften aufgewachsen sind. Was sie unterscheidet: Samuel hat sich gegenüber seiner Gemeinde als Aussteiger geoutet und sich aus dem orthodoxen Mikrokosmos in Richtung reale, heterogene Welt verabschiedet. Eine Welt, in der religiöses Dogma wenig und kulturelle sowie religiöse Vielfalt viel gilt. Er rebellierte bereits als Zwölfjähriger gegen sein strenges Umfeld. Seine Kippa hat er vor rund sechs Jahren (damals etwa dreissigjährig) endgültig abgelegt.

Für «C.» wäre ein Coming-Out als Ungläubiger hingegen schwieriger. Im Kopf hat er die religiösen Erklärungsmodelle und Problemlösungsvorschläge schon längst abgeschüttelt und durch wissenschaftliche, evidenzbasierte Inhalte ersetzt. Sein engster Familien- und Freundeskreis ist über seine Haltung im Bilde, aber ein komplettes, offizielles Ablehnen der religiösen Konzepte, ein sichtbares Nichtbefolgen der strengen Regeln und ein Ablegen der Kippa könnten für ihn – so fürchtet er – erhebliche Nachteile haben, wie für alle, die aus der Orthodoxie aussteigen wollen.

Im Gespräch gibt auch Samuel zu bedenken: «Der Prozess zum Ausstieg ist lang. Und in der Gemeinde spricht man nicht darüber. Man weiss auch nie, wie das Umfeld reagiert». Er selbst habe noch Kontakt zu seinen Eltern und Geschwistern. Sein Mitbewohner (es ist nicht «C.») habe jedoch weniger Glück gehabt: Dessen Eltern verweigern noch heute jeglichen Kontakt.

Aussteigende riskieren nicht nur den Verlust des sozialen Umfelds. Man würde deren Kinder aus den jüdischen Schulen werfen, von denen es übrigens auch weniger strenge mit halbwegs säkularem Lehrstoff gibt. Für die meisten stünde auch ihre Ehe auf dem Spiel – nur die wenigsten EhepartnerInnen möchten die soziale Ächtung über sich und ihre Kinder ergehen lassen. Die orthodoxen jüdischen Gemeinden unterhalten zudem eine weit reichende Infrastruktur. Sie unterhalten nicht nur Schulen und Synagogen, sondern bieten auch das Umfeld für Jobs und für Wohnmöglichkeiten. Hier geht es oft ans Existenzielle: Orthodox aufwachsende Kinder erhalten in erster Linie eine religiös geprägte Ausbildung, die sich schlecht als Grundlage für ein Leben in der säkularen Welt eignet. Wer ausbricht, hat wenig in der Hand, um sich in einem anderen Umfeld zu behaupten. Gerade auf dem Platz Zürich wären Wohnungen für jene kaum bezahlbar. Die meisten orthodoxen Juden sind mit zwanzig, einundzwanzig Jahren bereits verheiratet; die Frauen in der Regel sogar schon mit achtzehn oder neunzehn. Entsprechend früh kommen auch die ersten Kinder zur Welt. Wie will man sich mit fünfundzwanzig ohne säkulare Berufsbildung, ohne einen wettbewerbsfähigen Job eine Wohnung für eine bereits fünfköpfige Familie leisten? Sobald junge Männer und Frauen überhaupt erst in ein Alter kommen, in dem sie sich Gedanken über die Enge der orthodoxen Gemeinschaft machen, haben sie bereits viel zu verlieren.

Warum überhaupt raus?

Das Wort Orthodoxie stammt aus dem Griechischen und bedeutet ungefähr «Rechtgläubigkeit». Bei der jüdischen Orthodoxie geht es nicht nur um für uns merkwürdige Vorschriften punkto Ernährung (Fleisch und Milch nicht in derselben Küche, Verbot von Schweinefleisch), Kleidung, Haartracht (Kippa und Zöpfchen für Männer, Perücke für Frauen) oder die Verbote von Arbeit, Feuer, Strom usw. an jedem Sabbat – sprich: Samstag. Sie bestimmt das Leben von A bis Z.

Samuel räumt ein: «Die Religion ist etwas, das vielen einen Halt im Leben gibt. Im Falle der jüdisch-orthodoxen Gemeinden sogar eine komplette Tagestruktur. Viele brauchen das». Dies ist jedoch vielen zu eng. Streng jüdische Gemeinden regeln gemäss ihren Lehren alles: den Tagesablauf mit vielen Gebeten, die Ernährung, den Lehrstoff in den Schulen, die Art der konsumierbaren Kulturgüter. Es geht bis hin zu arrangierten, frühen Eheschliessungen, mit den daraus entstehenden Folgen. Mädchen aus orthodoxen Gemeinden erhalten zwar zunächst eine etwas breiter gefächerte, weniger Talmud-lastige Schulbildung, erlernen aber keinen anderen Beruf als einen: Hausfrau und Mutter. Sie müssen viele Schwangerschaften durchleben, Buben müssen beschnitten werden, alle Kinder müssen in die passenden Schulen – und der Kreislauf beginnt von vorne. Die Kinder stehen unter einem grossen Druck, sagt «C.»: «Ihr Programm ist komplett gefüllt mit Lernen, Beten, Talmud-Studie. Es gibt keine freien Räume für ein eigenes Denken und ein Entdecken der Welt».

Was bedeuten die Kleber? Und was will Derachim Schweiz?

Das Wort «Derech» bedeutet im Hebräischen «Weg» und steht unter orthodoxen Juden auch für den «richtigen Weg». «Derachim» ist die leicht ketzerisch konnotierte Pluralform und meint: Es gibt auch andere/mehrere Wege. Die beiden Gründer des Projekts sind sich sicher: Der Name für das Projekt trifft den Nagel auf den Kopf.

Aber warum Aufkleber? Die orthodoxe Gemeinde in Zürich ist vergleichsweise klein; man kennt einander. «Man kann nicht einfach direkt auf Leute zugehen», sagt «C.». Man will sich in so einem Umfeld nicht hinstellen und Flyer verteilen. Auch in jüdischen Medien würde man nicht über ein solches Projekt berichten, ergänzt Samuel. Die Kleber sind daher ein vorsichtiger Versuch des Projekts Derachim Schweiz, aussteigewillige Juden und Jüdinnen abzuholen, darum haben «C.» und Samuel diese auch an den Punkten angebracht, an denen sich viele Orthodoxe aufhalten oder daran vorbeigehen.

Das Misstrauen Aussteigewilliger gegenüber jenen, die sie zu Gesprächen ermuntern, ist derzeit noch gross. «C.» berichtet von einer Begegnung mit einem Gemeindemitglied, bei dem er Anzeichen seines Haderns mit der Enge der Orthodoxie gesehen hat. «C.» habe ihm eröffnet, dass er selbst die Religion nicht mehr besonders ernst nehme. Die Antwort: «Ich weiss nicht, ob ich dir trauen kann». Viele Aussteigewillige dürften hinter solchen Gesprächen eine Art «Falle» befürchten. «C.» hat im Gespräch mit der Autorin eine interessante Formulierung für den Zwiespalt und den inneren Aufbruch verwendet: «Die Kippa auf dem Kopf, aber die Seele unter dem Arm.»

Derachim Schweiz betreibt unter der Handy-Nummer 076 457 18 81 eine Art Hotline. Aussteigewillige können sich unter dieser Nummer beraten lassen. Eine der Ideen dahinter ist auf jeden Fall das wichtige Signal, mit dem Aussteigewunsch nicht alleine zu sein. Es gibt andere, die es schon hinter sich haben und mit denen man sprechen kann. Lässt man die Orthodoxie hinter sich, fangen zudem die Alltagsprobleme erst an. Samuel und «C.» bringen Beispiele: «Viele wissen buchstäblich nicht, wie man Jeans kauft!». In der Netflix-Doku «One of us» über amerikanische AussteigerInnen äussert zudem jemand den denkwürdigen Satz: «I had to google how to google». Er versinnbildlicht laut Samuel und «C.» die Praxisprobleme hervorragend, die sich Aussteigenden im Alltag stellen, während diese für uns in der «realen» Welt selbstverständliche Lappalien sind.

Bis zum Redaktionsschluss hat sich erst eine Person mit einer vorsichtigen Anfrage zum Anruf auf die Hotline-Nummer durchringen können. Samuel und «C.» sind sich bewusst, dass jemand die Nummer auch mit Fake-Anfragen kontaktieren könnte, vielleicht um herauszufinden, wer alles hinter Derachim steckt. «C.» weiss: «Die Leute müssen erst herausfinden, dass sie uns vertrauen können».

Wir wissen es ja jetzt: Im Moment besteht das Projekt Derachim Schweiz personell nur aus Samuel und «C.». Ein paar Freiwillige haben allerdings weitere Kleber an passenden Stellen angebracht. Bei unserer Frage nach einem Spendenkonto haben die beiden unisono abgewinkt. Noch sei das Projekt nicht mit besonderen Kosten verbunden. Der finanzielle Aufwand (Kleber, Handy, Webseite) sei gezielt noch niedrig gehalten. Das Webhosting inkl. Vorlage für www.derachim.ch ist preisgünstig (daher auch das Banner des Anbieters). Die Nummer der Hotline auf dem Kleber gehört zu einem Prepaid-Handy. Ferner gibt es Derachim Schweiz auf Facebook (https://www.facebook.com/derachim.ch/) und Twitter (https://twitter.com/derachimschweiz).

(Gabriela Salvisberg)