"Lussuria" (Wollust): Das neue Buch des Enthüllungsjournalisten Emiliano Fittipaldi - Sexueller Missbrauch und die Kultur des Schweigens in der katholischen Kirche

NZZ-online vom 20.1.2017:

Kindsmissbrauch durch Priester

Franziskus' Lippenbekenntnisse

von Andrea Spalinger, Rom20.1.2017, 08:00 Uhr

Kein Papst hat Pädophilie so wortgewaltig verurteilt wie Franziskus. Doch in der Praxis schützt die katholische Kirche auch unter ihm noch immer die Täter in den eigenen Reihen. Emiliano Fittipaldi ist nicht der Typ von Journalist, der sich einschüchtern lässt. Die Publikation seines Buches über Korruption und Geldverschwendung in der katholischen Kirche hatte dem 42-jährigen Neapolitaner einen Prozess im Vatikan wegen Veröffentlichung geheimer Dokument beschert. Nach Monaten wurde er im Juli schliesslich freigesprochen. Zu dem Zeitpunkt arbeitete der Enthüllungsjournalist bereits an einem neuen, nicht weniger brisanten Buch über sexuellen Missbrauch durch Geistliche und das Versagen der Kirche, dagegen vorzugehen. Am Donnerstag ist das Buch mit dem Titel «Lussuria» («Wollust») erschienen.

Kultur des Schweigens

Fittipaldis Quellen sind diesmal keine Whistleblower und geheimen Dokumente, sondern öffentlich zugängliche Gerichtsakten, Briefe aus Kirchgemeinden und lokale Medienberichte. Daraus zeichnet der Journalist vor allem ein ziemlich düsteres Bild über die Lage in Italien. In den vergangenen zehn Jahren wurden hier 200 Priester wegen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen angezeigt oder verurteilt. «Die bekanntgewordenen Fälle sind jedoch nur die Spitze des Eisbergs», betont Fittipaldi in einem Gespräch mit der NZZ.

In seinem Buch beschreibt er einzelne Fälle wie jenen eines Priesters aus der Lombardei, der Kinder im Beichtstuhl missbrauchte und 2016 in erster Instanz zu fast fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Papst Franziskus und die zuständige Glaubenskongregation verweigerten in dem Fall die Zusammenarbeit mit den Justizbehörden, sie hielten interne Dokumente unter Verschluss. Ein Priester aus Kalabrien wurde 2015 von der Polizei mit einem 17-Jährigen im Auto in einer kompromittierenden Stellung ertappt. Es stellte sich heraus, dass er sich regelmässig mit minderjährigen Prostituierten traf. Wie aus Abhörprotokollen hervorgeht, riet der zuständige Bischof dem Priester, nicht mit den Behörden zu kooperieren. – Während in den USA, in Australien, Irland und Belgien in den letzten Jahrzehnten Skandale aufgedeckt und auch aufgearbeitet wurden, ist sexueller Missbrauch durch Priester in Italien noch weitgehend ein Tabuthema. «In traditionell sehr katholischen Ländern wie Italien, Spanien und einigen südamerikanischen Staaten herrscht bis heute eine Kultur des Schweigens», erklärt Fittipaldi. «Die Opfer und ihre Familien wagen es oft nicht, Fälle zu melden. Oder sie werden nicht ernst genommen.» Lokale Medien berichten zwar über Missbrauchsfälle, und vereinzelt werden Täter rechtskräftig verurteilt. Diese werden dann aber als bedauerliche Einzelfälle hingestellt, und man will nicht wahrhaben, dass ein grundlegendes Problem besteht.

Reine Lippenbekenntnisse

Papst Franziskus hat die «Plage» des Kindsmissbrauchs mit deutlichen Worten verurteilt und eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Pädophilen angekündigt. Er hat unter anderem eine Kommission eingesetzt, die Vorschläge zum Schutz von Kindern ausarbeiten soll, und die Schaffung eines Tribunals versprochen, das Geistliche im Fall von Vertuschung zur Rechenschaft ziehen soll.

«Leider waren dies reine Lippenbekenntnisse», kritisiert Fittipaldi. «In der Praxis hat sich die Lage unter Franziskus kein bisschen verbessert.» Die eingesetzte Spezialkommission habe in vier Jahren ganze dreimal getagt, und das Sondergericht gebe es noch gar nicht. Laut Experten ist eines der Hauptprobleme, dass der Vatikan Priester und Bischöfe nicht dazu verpflichtet, Verdachtsfälle im eigenen Umfeld anzuzeigen. Und so werden pädophile Priester weiter geschützt und hin und her versetzt, anstatt exkommuniziert und gerichtlich verfolgt zu werden. Bischöfe und Kardinäle wiederum, die Missbrauch geschehen lassen oder gar vertuschen, machen Karriere.

Nicht nur in Italien ist das Phänomen noch immer weit verbreitet. Seit dem Amtsantritt von Franziskus 2013 sind bei der Glaubenskongregation 1200 Anzeigen aus der ganzen Welt eingegangen. Was mit diesen geschehen ist, bleibt unklar, weil das Dossier als streng geheim behandelt wird. In den meisten Fällen dürfte rein gar nichts unternommen worden sein.

Franziskus persönlich hat Vertraute mit fragwürdiger Vergangenheit befördert. Drei von neun Mitgliedern seines Kardinalsrates haben eine schmutzige Weste. Das prominenteste Beispiel ist Kardinal George Pell, der Leiter des Wirtschaftssekretariats und dritthöchster Mann im Vatikan. Der Australier hatte als Erzbischof von Sydney systematisch Missbrauch vertuscht und Opfer bestochen, und obwohl er mit 75 Jahren bereits das Pensionsalter erreicht hätte, hält Franziskus an ihm fest.

In einzelnen Fällen hat der Papst zwar durchgegriffen, allerdings immer erst dann, wenn Skandale publik wurden und die Betroffenen nicht mehr tragbar waren. So etwa im Fall des ehemaligen Botschafters in der Dominikanischen Republik, Josef Wesolowski. Der Pole hatte erwiesenermassen jahrelang Kinder missbraucht und pornografisches Material gesammelt. Bevor die Affäre ausser Kontrolle geriet, wurde er festgenommen. Als erstem ranghohem Kirchenvertreter sollte ihm im Vatikan der Prozess gemacht werden. Doch das Verfahren wurde mehrmals verschoben, und Wesolowski starb schliesslich, ohne zur Rechenschaft gezogen worden zu sein.

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