Bebel oder Bibel?

Die Sozialdemokraten feiern dieses Jahr in der Schweiz ihr 125-jähriges, in Deutschland ihr 150-jähriges Bestehen. In beiden Ländern gab es Feiern und auch zum 100. Todestag von August Bebel wurde in Zürich eine Gedenkfeier ausgerichtet.

In Zürich würdigte SP-Parteipräsident Christian Levrat das Wirken von August Bebel (1840–1913), der als einer der Väter der Sozialdemokratie gilt. Kein Thema in seiner Rede war Bebels Haltung zur Gretchenfrage: Bebel war Atheist. Eines seiner berühmtesten Zitate lautet: «Christentum und Sozialismus stehen sich gegen­über wie Feuer und Wasser. Der sogenannte gute Kern im Christentum, den Sie, aber ich nicht darin finde, ist nicht christlich, sondern allgemein menschlich, und was das Christentum eigentlich bildet, der Lehren- und Dogmenkram, ist der Menschheit feindlich.»

«Klassenfunktion der Religion» In seinem Buch über August Bebel schreibt der deutsche Freidenker Heiner Jestrabek: «Ein wichtiger Aspekt in Bebels Wirken war das Bemühen um die Gewinnung der Arbeiterschichten, die unter dem Einfluss des politischen Klerikalismus standen, insbesondere durch katholische Gesellenvereine und die politisch einflussreiche Zentrumspartei. Aus seinen Gesellen- und Wanderjahren wusste Bebel um deren Machtmechanismen und ideologische Einflussmöglichkeiten. Schon 1886 hatte er sich in einem Artikel in der Neuen Zeit mit der sozialen Demagogie des damaligen Papsttums auseinandergesetzt. Die Sozialdemokratie hatte in ihrem Erfurter Programm das persönliche religiöse Bekenntnis der Mitglieder zur Privatsache erklärt, gleichzeitig aber die Forderung nach Trennung von Staat und Kirche betont. Die Opportunisten in der Partei interpretierten diesen Programmpunkt so, dass sich die Partei in religiösen und kirchlichen Dingen neutral verhalten müsse. Bebel dagegen plädierte für eine offene und nachdrückliche atheistische Propaganda unter Berücksichtigung des Parteiprogramms. Die Erklärung der Partei, ‹Religion ist Privatsache›, dürfe nicht so interpretiert werden, dass die Auseinandersetzung ganz unterbleibe. Vielmehr müsse die Klassenfunktion der Religion im herrschenden System nachgewiesen und erläutert werden, warum Staat und Kirche sowie Schule und Kirche zu trennen seien. Je besser der Partei das am konkreten Beispiel gelänge, desto überzeugender wirke sie.»1

SPD auf Wählerfang bei den Kirchenmitgliedern Der deutsche Historiker und Staatsarchivar Rainer Hering beschreibt in seinem historischen Rückblick über «Sozialdemokratie und Kirchen in Deutschland», wie Mitte der 1950er-Jahre die SPD unter Herbert Wehner, der wieder in die evangelische Kirche eingetreten war, im «Berliner Programm» festhielt: «Die sozialistischen Ideen sind keine Ersatzreligion. Die sozialistische Bewegung stellt sich nicht die Aufgaben einer Religionsgemeinschaft. In Europa sind Christentum, Humanismus und klassische Philosophie geistige und sittliche Wurzeln des sozialistischen Gedankengutes. Die Sozialdemokratie begrüsst die wachsende Erkenntnis vieler Christen, dass das Evangelium eine Verpflichtung zum sozialen Handeln und zur Verantwortung in der Gesellschaft einschliesst.» 1959 wurde schliesslich in Bad Godesberg die Trennung von Staat und Kirche aus dem Parteiprogramm der SPD gestrichen und der Status der Kirchen bestätigt: «Die Sozialdemokratische Partei achtet die Kirchen und die Religionsgemeinschaften, ihren besonderen Auftrag und ihre Eigenständigkeit. Sie bejaht ihren öffentlich-rechtlichen Schutz.» Schon fünf Jahre später wurde erstmals eine sozialdemokratische Delegation im Vatikan empfangen, wo sie erklärte, dass die Partei an guten Beziehungen zur katholischen Kirche interessiert sei, und damit die Basis schuf zur Teilnahme an der Macht: «Das Godesberger Programm schuf die Voraussetzung, neben der Arbeiterschaft weitere Bevölkerungskreise zu erreichen. So gelang der SPD 1966 mit der Bildung einer Grossen Koalition die erste sozialdemokratische Regierungsbeteiligung in der Bundesrepublik. Drei Jahre später stellte die SPD mit Willy Brandt den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.»2 Dissens Schwangerschaftsabbruch Ab 1969 führte die Frage des Schwangerschaftsabbruchs zur Verschlechterung der Beziehungen zur katholischen Kirche und zu Stimmenverlusten bei den Wahlen 1976. 1998 verzichteten der Kanzler Gerhard Schröder und etliche Minister auf die religiöse Formel «So wahr mir Gott helfe!». Anders als unter den sozialdemokratischen Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt warb die SPD damals nicht mehr so intensiv um die katholische Kirche. Das Hamburger Programm der SPD vom 28. Oktober 2007 nennt Kirchen und Religionsgemeinschaften «Träger der Zivilgesellschaft», wie auch Parteien, Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbände.3 SP Schweiz seit 2010 für Laizität – aber niemand weiss es Wie die Entwicklung in der Schweiz verlaufen ist, lässt sich nur erahnen. Publikationen dazu finden sich keine. Immerhin zeigt ein Blick in die Parteiprogramme, dass dort ab 1935 die Trennung von Staat und Kirche nicht mehr figuriert. Erst 2010 gab sich die Partei unter dem Einfluss von Cedric Wermuth ein Parteiprogramm, in dem neben der viel beachteten Überwindung des Kapitalismus auch wieder ein Bekenntnis zur Laizität steht (siehe Kasten auf der gegenüberliegenden Seite). Dumm nur, dass die Mitglieder das wohl kaum bemerkt haben. Auswirkungen dieses Programmpunktes sind keine ersichtlich. Jedenfalls steht die SP Schweiz in aller Regel heute noch hinter den kantonalen kirchlichen Privilegien, hinter Kirchensteuern für juristische Personen und direkten Staatsbeiträgen für die Landeskirchen aus allgemeinen Steuermitteln. Reta Caspar in FD 4/2013

1 August Bebel: «Die moderne Kultur ist eine antichristliche». Ausgewählte Reden und Schriften zur Religionskritik. Hrsg. Heiner Jestrabek, 2007, Alibri Verlag, ISBN 3-932710-58-4 www.alibri-buecher.de/docs/probe59.pdf 2 www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/stichwort/godesberger.htm 3 Rainer Hering: «Sozialdemokratie und Kirchen in Deutschland – ein historischer Rückblick», 2011 www.spd.de/spd-webapp/servlet/elementblob/457384/content

Die Kirche im Parteiprogramm der SP Schweiz

1870: «Wir sind entschieden für die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche.» 1888: «Kirche» und «Religion» kommen nicht vor. 1904: «Trennung von Kirche und Staat» als Teil des «Ausbaus der Demokratie» im «Arbeitsprogramm». 1920: «Trennung von Kirche und Staat» als Teil der «Entwicklung der Demokratie» im «Arbeitsprogramm». 1935: «Kirche» und «Religion» kommen nicht vor. 1959: «Kirche» und «Religion» kommen nicht vor. 1982: «Die neutrale Schweiz könnte ein Beispiel sein: Regierung, Parlament, Parteien, Verbände und Wissenschaft, Kirche, Ärzte, wir alle können an Versammlungen, an internationalen Konferenzen, auf der Strasse, an Demonstrationen Anstösse und Unterstützung im Kampf für den Frieden geben.» 2010: «Seit der Aufklärung bilden die Menschenrechte die Grundlage unserer Gesellschaft. Die SP setzt Irrationalismus und religiösem Fundamentalismus das Modell einer pluralistischen Gesellschaft im laizistischen Staat entgegen, das von der Würde und Freiheit des Individuums ausgeht und dieses zur Achtung der Menschenrechte verpflichtet. Staat und öffentliches Bildungswesen sollen gegenüber allen Religionen strikte Neutralität wahren, auf Vorgaben zum ‹richtigen› Glauben verzichten und in öffentlichen Gebäuden und Schulen das Zurschaustellen religiöser Symbole unterbinden.» Parteiprogramme der SP auf: http://www.sp-ps.ch/ger/Media-library/AA-SP-Schweiz/Partei/Parteiprogramme