Moskauer Prozesse: Der dunkle Kontinent

Bern13.-16. Juni 2013

Nicht nachgestellt, sondern neu aufgerollt hat Milo Rau in Moskau drei reale Prozesse, allerdings in theatralischem Rahmen. Doch auch hier, vor ausgewähltem Publikum, spielte die Wirklichkeit mit. Vor zehn Jahren hatten orthodoxe Fanatiker die Ausstellung «Achtung! Religion» verunmöglicht. Der Vorwurf: Beleidigung der Gefühle von Gläubigen. Juri Samodurow, dem Direktor des Sacharow-Zentrums, wurde auf Beschluss der Duma der Prozess gemacht; man verurteilte ihn zu einer Geldstrafe. Drei Jahre später, 2006, fand wieder eine umstrittene Ausstellung statt: «Verbotene Kunst». Zu sehen waren Werke, die vornehmlich in Akten vorauseilender Selbstzensur aus Galerien und Museen entfernt worden waren, weil sie Staatsmacht und Kirche provozierten. Der Vorwurf: «Schüren von religiösem und nationalem Hass». Samodurow und der Kurator Andrei Jerofejew wurden mit hohen Geldstrafen belegt. 2012 wurden – wegen «Rowdytums aus religiösem Hass» – am 17. August drei Mitglieder der Punk- und Performance-Gruppe «Pussy Riot» zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Weil sie mit der Wahl des Ortes die unheilige Allianz von russisch-orthodoxer Kirche und Politik anklagte, wurde ihr Auftritt zur Provokation für die Machthaber: Er liess das System Putin korrupt und undemokratisch aussehen. Deshalb, vor allem, wurde Pussy Riot verurteilt. Milo Rau hat binnen drei Tagen diese drei Prozesse nicht nachinszeniert, sondern neu aufgerollt, als Schau-Prozess mit offenem Ausgang. Als Regisseur hat er die Beteiligten zwar ausgewählt, aber keine Texte vorgeschrieben oder Figuren erfunden. So engagierte er sieben Schöffen, die einen Querschnitt durch die Moskauer Gesellschaft bildeten – vom streng orthodoxen Bienenzüchter bis zum liberalen Inhaber eines Fotostudios. Sie folgten in einem nachgestellten Gerichtsraum den Verhandlungen, die sich um die Fragen drehten, ob die beiden Ausstellungen und der Auftritt von Pussy Riot überhaupt ins Gebiet des Strafrechtes fallen, ob die Künstler es darauf angelegt haben, Gläubige zu beleidigen und was die Kunst in Russland darf.

http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/buehne_konzert/gesellschaft-vor-gericht-1.18039020

Moskauer Prozesse: Der dunkle Kontinent Das Gesamtprojekt besteht aus mehreren Teilen. Der szenische Kongress «Power and Dissent», der vom 19. bis zum 21. Oktober am Deutschen Nationaltheater Weimar stattfand, legte die Grundlage zu dem theatralen Schauprozess, der vom 1. bis 3. März in Moskau stattfinden wird.

Im Moskauer Sacharow-Zentrum, an jenem Ort, wo 10 Jahre zuvor die Ausstellung «Achtung, Religion!» von orthodoxen Extremisten zerstört wurde, wird ein Gerichtssaal aufgebaut, der die Kulisse für ein dreitägiges Prozess-Spektakel bietet, in dem  die Exponenten des russischen Kulturkampfs gegeneinander antreten. Auf der Bühne stehen dabei keine Schauspieler, sondern Akteure aus dem realen Leben: Künstler, Politiker, Kirchenführer, richtige Anwälte und ein richtiger Richter. Ein Schöffengericht aus sechs Moskauer Bürgerinnen und Bürgern fällt schliesslich das Urteil: für oder gegen die Demokratie, für oder gegen die Freiheit der Kunst.

Daran anschliessen werden Werkstattgespräche 14. März 2013: Gessnerallee Zürich (Sophiensæle Berlin, Mai 2013) und am 13.-16. Juni 2013: Konzert Theater Bern eine Abschlussveranstaltung durchgeführt.

«Der dunkle Kontinent» präsentiert zwischen 13. und 16. Juni 2013 die Abschlussveranstaltung des internationalen Grossprojekts «Die Moskauer Prozesse» mit der Uraufführung zum während des Schauprozesses im Moskauer Sacharowzentrum gedrehten Dokumentarfilm, mit einer Rückschau auf das Gesamtprojekt, mit einer Publikation, mit Experten- und Publikumsgesprächen und einer zusammenfassenden Ausstellung: In Vidmar+ wird das Projekt multimedial und mit Diskussionsrunden dokumentiert.

«Der dunkle Kontinent» beleuchtet die gesellschaftspolitischen Hintergründe und Auswirkungen der Kunstaktion und präsentiert diese nochmals dokumentarisch in Gänze und im Bühnenbild des szenischen Kongresses «Power and Dissent», das auch das Bühnenbild der «Moskauer Prozesse» bildet.

«Der dunkle Kontinent» ist eine Koproduktion von IIPM mit u.a. dem Deutschen Nationaltheater Weimar und dem Konzert Theater Bern, in Kooperation mit dem Goethe-Institut, Memorial International, dem Sacharow-Zentrum Moskau, gefördert aus Mitteln der Kulturstiftung des Bundes, Deutschland.